| <text>Sexueller Missbrauch –„Das schreiende Kind steckt noch tief in mir“ Die Opfer leiden oft jahrzehntelang. Nun will die Bundesregierung einen Fonds einrichten, damit zum Beispiel Therapien bezahlt werden können. Eine Betroffene spricht über das Martyrium. Braunschweig. Die Frau, die diese Frage stellt, ist selbst eine Betroffene: In einer E-Mail an unsere Redaktion schreibt sie, dass ihre Mutter und ihr Vater sie jahrelang immer wieder sexuell missbraucht haben. Erst als sie 18 war und zu Hause ausziehen konnte, endeten die körperlichen Qualen. Aber ihre Seele ist immer noch krank, die 61-Jährige leidet nach wie vor. Aus diesem Grund bittet die Frau um Anonymität – für diesen Artikel nennen wir sie Katharina Grünberg. Wenn man Katharina Grünberg an ihrem runden Tisch im gemütlichen Wohnzimmer gegenübersitzt, und wenn man sie reden hört, ruhig und mit klarer Stimme, dann meint man, alles sei in bester Ordnung. Doch dann schildert sie, wie sie immer wieder von Panikattacken gepackt wird, wie Todesangst ihre Gedanken fesselt, wie sie denkt: Jetzt bleibt mein Herz stehen, jetzt muss ich sterben. In solchen Momenten rast ihr Herz, sie schwitzt und verkrampft sich so heftig, dass ihr Körper am Tag danach noch schmerzt. Laut Diagnose lebt Katharina Grünberg mit einer dissoziativen Identitätsstörung. Was das bedeutet, beschreibt sie so: Aufgrund der traumatischen Erlebnisse durch den Missbrauch haben sich Teile ihrer Persönlichkeit abgespalten – eine Schutzreaktion, um die unfassbare Grenzüberschreitung und den Vertrauensbruch ertragen zu können, um überleben zu können. „Diese Abspaltung betrifft schreckliche Erinnerungen und Gefühle“, erklärt sie. „Durch verschiedene Reize wie Gerüche, Geräusche und Bilder können diese Erinnerungen und Gefühle aber blitzartig aktiviert werden – sie sind dann so übermächtig, dass ich sie für real halte und nicht einordnen kann. Man kann nur lernen, sich davon nicht wegreißen zu lassen; teilweise gelingt mir das inzwischen. Aber es ist unglaublich anstrengend. Ich brauche all meine Energie, um mich permanent zu kontrollieren und einen Anschein von Normalität herzustellen.“ Lange Wartezeit auf Therapie Viele Jahre lang hatte Katharina Grünberg komplett verdrängt, was ihre Eltern ihr angetan haben. Sie hatte das Traumatische ausgeblendet, es in einen abgeriegelten Bereich ganz tief in ihrem Inneren verbannt. Sie hat als Lehrerin gearbeitet, geheiratet und zwei Töchter bekommen. Irgendwie kam sie durchs Leben – auch wenn es ihr immer schwerfiel, zu vertrauen und Nähe zuzulassen. Einige Jahre nach der Geburt ihrer Töchter brach die vermeintlich heile Welt zusammen, all das Verdrängte überrollte sie. Sie musste ihren Beruf aufgeben, weil sie den Anforderungen nicht mehr gewachsen war, und wurde frühpensioniert. Die Ehe zerbrach. Inzwischen lebt sie von einer Erwerbsunfähigkeitsrente und gibt gegen ein kleines Honorar Kurse an einer Volkshochschule. Seit etwa 20 Jahren ist Katharina Grünberg nun mit Unterbrechungen bei verschiedenen Therapeuten und Ärzten in Behandlung. Sie spricht von einer Therapiekarriere – und in ihrer Stimme schwingt bei diesem Wort Sarkasmus mit. Bis man einen passenden Therapeuten finde, brauche man mehrere Anläufe, sagt sie; hinzu kommen die oft langen Wartezeiten. Sie beschreibt diesen Weg als Odyssee. Niemand darf etwas erfahren Wie es ihr jetzt geht? „Ich habe ständig das Gefühl, dass mein Fundament morsch ist, dass es nichts Verlässliches gibt, dass das Leben mich völlig überfordert. Morgens ist es meistens ein Kampf, überhaupt aufzustehen. Ich versuche, mir gedanklich Inseln zu bauen: Worauf könnte ich mich freuen? Aber das muss ich mir konstruieren. Theoretisch weiß ich, was Lebensfreude ist – wie es sich anfühlt, beginne ich erst jetzt langsam zu ahnen. Ich bin kaum in der Lage, Gefühle zuzulassen; weinen zu können, erobere ich mir gerade zurück.“ Nach außen hin lässt sie sich davon nichts anmerken. Die Fassade steht. Keiner darf etwas erfahren! Doch zugleich hat sie den Wunsch, mit ihrem Leid gesehen zu werden, um sich selber glauben zu können. „Meine Eltern haben mir immer gesagt, dass ich lüge. Das brennt sich ein. Irgendwann kommen tatsächlich Zweifel, ob man sich das alles nur einbildet“, sagt sie. „Dann verfestigt sich so ein furchtbares Gefühl: Keiner glaubt mir, keiner hilft mir, ich bin nichts wert.“ Keine Opferentschädigung Vor einigen Jahren hat sie versucht, finanzielle Unterstützung über das Opferentschädigungsgesetz zu bekommen. Dieses Gesetz sieht Entschädigungsleistungen für Opfer von Gewalttaten vor, die gesundheitliche Schäden erlitten haben. „Das Antragsprozedere hat ungefähr zwei Jahre gedauert“, erzählt sie. Schließlich sei zwar anerkannt worden, dass ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen eine Folge des Missbrauchs sind, aber da die Taten vor Inkrafttreten des Gesetzes 1976 geschehen sind, fällt sie unter eine Übergangsregelung. Diese setzt eine finanzielle Bedürftigkeit voraus, um Unterstützung zu bekommen – dafür ist ihr Einkommen aber nicht gering genug. „Hätte der Missbrauch nach 1976 stattgefunden, hätte mir eine Berufsausfallentschädigung zugestanden“, sagt Katharina Grünberg. „Das hätte zwar den Missbrauch nicht wieder gutmachen können, aber es hätte mir erspart, neben dem psychischen Kampf ums Überleben auch noch den existenziellen Überlebenskampf führen zu müssen.“ Stationäre Behandlung nötig Was Katharina Grünberg zudem belastet, sind die wiederholten Auseinandersetzungen mit ihrer privaten Krankenkasse. Zwar habe die Kasse neben zwei ambulanten Therapien auch stationäre Therapien bezahlt, doch eine von den behandelnden Ärzten als notwendig erachtete Verlängerung der stationären Aufenthalte über vier Wochen hinaus sei jedes Mal abgelehnt worden – immer mit der Begründung, dies sei medizinisch nicht notwendig. „Das bedeutete, dass ich den begonnenen guten Prozess leider abbrechen musste und instabil entlassen wurde“, erläutert sie. „Auch aus Sicht meines Arztes ist eine stationäre Behandlung dringend erforderlich – aber vier Wochen reichen eben nicht. Es gehört sehr viel Mut dazu, sich der Vergangenheit zu stellen, und ich habe schon viel erreicht. Doch die Seele, die durch den Missbrauch in Einzelteile zerlegt wurde, braucht Zeit und professionelle Unterstützung, um zu heilen. Ich habe eine Perspektive: endlich ein Leben ohne Therapien. Aber ich kann die Kosten für den Klinikaufenthalt nicht selbst aufbringen, wenn die Krankenkasse sie nicht übernimmt.“ Fonds für Missbrauchsopfer Große Hoffnung setzt Katharina Grünberg jetzt auf den Fonds für Opfer sexuellen Missbrauchs, der im Mai starten soll. Dieser Hilfsfonds ist Teil eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Missbrauchsopfern, das der Bundestag Mitte März dieses Jahres verabschiedet hat. Das Gesetz wiederum geht zurück auf Empfehlungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“. Dieses Gremium war 2010 eingerichtet worden, nachdem Tausende Fälle von Kindesmissbrauch in kirchlichen Einrichtungen, Internaten und Heimen bekanntgeworden waren. Nach anderthalbjähriger Beratung hatte der Runde Tisch Ende 2011 unter anderem empfohlen, einen Fonds in Höhe von 100 Millionen Euro zu schaffen, der sich an Opfer sexuellen Missbrauchs in privaten und öffentlichen Einrichtungen sowie ausdrücklich auch an Opfer von Missbrauch in Familien richten soll. Der Fonds sollte je zur Hälfte vom Bund und den Ländern getragen werden. Doch genau daran hapert es: Die meisten Länder verweigern eine Beteiligung, darunter auch Niedersachsen. Landessozialministerin Cornelia Rundt (SPD) sagt dazu: „Wir lehnen die Einrichtung des Fonds in dieser Form ab, weil er uns zwingen will, Verantwortung für sexuellen Missbrauch im privaten Bereich zu übernehmen.“ Das Land bekenne sich jedoch zu seiner Verantwortung, wenn in Landeseinrichtungen, in Schulen oder in schulischen Einrichtungen Kinder Opfer von Gewalt und Missbrauch wurden, so Rundt. 10000 Euro pro Antragsteller Aufgrund der Differenzen hat die Bundesregierung nun beschlossen, den Fonds mit einem Volumen von 50 Millionen Euro ohne Beteiligung der Länder zu starten. Nach Auskunft des Bundesfamilienministeriums sollen daraus vor allem Therapien bezahlt werden, falls die Krankenkassen diese Kosten nicht übernehmen. Details zu den geplanten Hilfen sowie zu den Antragsmöglichkeiten stehen noch nicht fest. Geplant ist, dass ein unabhängiges Sachverständigengremium über die Anträge der Betroffenen entscheiden wird, das sich unter anderem aus Ärzten und Psychotherapeuten sowie Vertretern von Bund und Ländern zusammensetzen soll. Im Abschlussbericht des Runden Tisches wird zudem eine Obergrenze für Sachleistungen von 10 000 Euro pro Antragsteller vorgeschlagen; in Einzelfällen soll auch mehr gezahlt werden können. Die Hilfe soll stets schnell und unbürokratisch erfolgen, heißt es. Kampf gegen die Ohnmacht Katharina Grünberg sieht in dem Fonds einen Rettungsanker – sie hofft, dass sie über diesen Weg endlich eine längere stationäre Therapie wahrnehmen kann. In der E-Mail, die sie an unsere Redaktion geschickt hatte, schreibt sie: „Immer wieder zu scheitern in den Versuchen, dringend benötigte Hilfe zu bekommen, ruft ein Gefühl von Ohnmacht hervor – ein Gefühl, das alle Betroffenen sehr gut aus den Missbrauchssituationen kennen. Jedes Scheitern bedeutet eine Form von Retraumatisierung, wirft zurück auf dem mühseligen Weg aus dem bloßen Überleben in ein lebenswertes, lebendiges Leben, von dem es zwar eine Ahnung gibt, das aber kaum erreichbar erscheint. Nur wenige Betroffene haben das Geld, Therapiekosten selber zu zahlen. Und viele haben nicht mehr die Kraft zu kämpfen, geben sich auf. Ich selber stehe trotz allem immer wieder auf, kämpfe weiter, weiß manchmal nicht, woher ich die Kraft nehme. Ich bin schon ein ganzes Stück gegangen auf meinem Weg, mir mein Leben zurückzuerobern und nicht mehr Opfer zu sein.“ „Ich will mir mein Leben zurückerobern und nicht mehr Opfer sein.“ Katharina Grünberg Eine Leserin, die anonym bleiben möchte, fragt: „Nach zähem Ringen will die Bundesregierung jetzt endlich den Hilfsfonds für Opfer sexuellen Missbrauchs einrichten. Warum beteiligen sich die Länder nicht daran, damit der Fonds wie geplant 100 Millionen Euro umfassen kann? Wer hat Anspruch auf Leistungen und wofür wird es Geld geben?“ Die Antwort recherchierte Cornelia Steiner Diese Tonfigur hat Katharina Grünberg vor einigen Jahren angefertigt, als sie wegen des sexuellen Missbrauchs durch ihre Eltern zur Behandlung in einer Klinik war. „Die Figur zeigt, was ich fühle: Ich bin erwachsen, aber es gibt immer noch das schreiende Kind in mir. Es ist ein stummer Schrei, denn damals durfte ihn niemand hören“, sagt sie. „Ich spüre Unbeholfenheit in mir: Einerseits möchte ich das Kind trösten und es liebevoll beruhigen. Andererseits möchte ich das Schreien zulassen – aber das würde ich wahrscheinlich nicht aushalten.“ Foto: Daniela Nielsen</text> |